Rat und Stadtbezirksräte
Vorlage - 19-10483
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Sachverhalt:
1. Anlass
Im Rahmen der Beratung des Antrags 19-10392 „Verwaltungsmodernisierung und Haushaltsoptimierung“ der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in der Sitzung des Finanz- und Personalausschusses am 21.03.2019 wurde die Verwaltung gebeten, die seit 2016 verwendete Berechnungsmethodik des Strukturellen Defizits näher zu erläutern.
Diesem Wunsch bin ich mit einem entsprechenden Kurzvortrag in der Sitzung des Verwaltungsausschusses am 26.03.2019 nachgekommen. Die dabei verwendete Präsentation ist dieser Mitteilung als Anlage 1 beigefügt.
Daneben wurde von Seiten der Politik gebeten, die Berechnungsmethodik und die Entwicklung des strukturellen Defizits in Form einer Mitteilung an den Rat aufzubereiten.
2. Entstehung der Diskussion zum Strukturellen Defizit
In meiner Rede in der Ratssitzung am 15.03.2016, in der der Haushalt 2016 verabschiedet wurde, habe ich der Politik einen „Pakt der Vorsorge“ vorgeschlagen. Danach könnte der städtische Haushalt strukturell stetiger so geplant werden, dass nicht mehr als der langjährige Durchschnitt der Gewerbesteuererträge zur laufenden Verwendung vorgesehen würde.
Dieser Impuls wurde später im Antrag Nr. 16-02019 „Gewerbesteuerglättung“ der Fraktion der Piratenpartei vom 08.04.2016 aufgegriffen. Mit einer hierzu verfassten Stellungnahme hat die Verwaltung ein konkretes Lösungskonzept beschrieben und vorgelegt, das den Ausgangsgedanken der Gewerbesteuerglättung um weitere verstetigende Elemente der Haushaltsplanung erweitert hat, insbesondere zur Berücksichtigung konjunktureller Schwankungen. Insofern wird auf die Drucksache Nr. 16-02019-01 verwiesen.
Letztlich hat der Rat am 21.06.2016 folgenden geänderten Beschluss gefasst:
„Zur Erhöhung der Planungssicherheit und zur langfristigen Sicherung der finanziellen Handlungsfähigkeit der Stadt Braunschweig wird die Verwaltung gebeten, die Entwürfe zukünftiger Haushaltspläne so zu gestalten, dass der Ergebnishaushalt unter Berücksichtigung wesentlicher jahresspezifischer Sonderfaktoren (z.B. positive oder negative Konjunktureffekte, erhebliche Gewinn- und Verlustveränderungen städtischer Beteiligungen, jährliche Schwankungen im Finanzausgleich, Bildung und Abbau von Haushaltsresten, Flüchtlingskosten) mindestens ausgeglichen wäre, wenn als Gewerbesteueraufkommen das arithmetische Mittel der jeweils vorherigen 7 Jahre einträte (ggf. unter Verwendung vorläufiger oder geschätzter Werte).
Die Verwaltung wird gebeten, die in diesem Zusammenhang vorgenommenen Veränderungen ausreichend detailliert darzustellen.“
In der Folge hat die Verwaltung nach dieser Methodik regelmäßig berechnet, wie sich das geplante Jahresergebnis des Haushaltsjahres unter Berücksichtigung dieser Verstetigungsmethode darstellt. Das Ergebnis dieser Berechnung wurde unter der Bezeichnung „Strukturelles Defizit“ seitdem zweimal jährlich unter Ziffer 1.7 des Vorberichts im Haushaltsplanentwurf bzw. im verabschiedeten Haushaltsplan veröffentlicht.
Zwischenzeitlich wurde der aus dem Antrag Nr. 16-02019 abgeleitete Planungsauftrag an die Verwaltung durch Beschluss des Rates vom 06.02.2018 formell aufgehoben (Antrag FWE 178 zum Haushalt 2018).
3. Grundgedanke des Strukturellen Defizits
Allgemein kann das Strukturelle Defizit als „eine um konjunkturelle und Einmalfaktoren bereinigte Maßgröße für die Finanzierungslücke in öffentlichen Haushalten“ (nach ces ifo) bezeichnet werden. Veröffentlichungen und Diskussionen hierzu beziehen sich meist auf Strukturelle Defizite staatlicher (kameraler) Haushalte.
Für deren Ermittlung gibt es verschiedene Verfahren. Für die Schuldenbremse nach den Art. 109 bzw. 115 Grundgesetz gibt es sogar eine gesetzliche Grundlage, nämlich das Gesetz zur Ausführung von Artikel 115 des Grundgesetzes. Danach erfolgt die Berechnung u. a. auf Grundlage des vom Statistischen Bundesamt ermittelten nominalen Bruttoinlandsproduktes (BIP) und einer Konjunkturkomponente, die wiederum als Produkt aus der Produktionslücke und der Budgetsensitivität (§ 5 Abs. 1 des Ausführungsgesetzes) definiert ist.
Im Rahmen der kommunalen Doppik besteht weder eine gesetzlich vorgegebene Definition noch eine allgemein gültige Berechnungsmethodik, daher muss diese vor Ort diskutiert und definiert werden. Eine Ableitung etwa aus der oben dargestellten Definition kommt aufgrund der für die kommunale Ebene nicht vollständig vorliegenden volkswirtschaftlichen Kennzahlen nicht in Betracht.
Stattdessen kommt eine Herleitung über ein Idealbild der nachhaltigen Haushaltsplanung in Betracht, deren Bezug das geplante Jahresergebnis eines kommunalen Haushalts ist. Dabei sollten in konjunkturstarken Zeiten grundsätzlich Jahresüberschüsse erzielt werden, damit die Jahresfehlbeträge in konjunkturschwachen Zeiten durch einen Rückgriff auf die Überschussrücklagen ausgeglichen werden können.
Verschiebt sich das Verhältnis zwischen Erträgen und Aufwendungen nun dauerhaft so, dass selbst in Phasen guter Konjunktur keine (ausreichenden) Überschussrücklagen aufgebaut werden können oder diese sogar zur Deckung von Fehlbeträgen herangezogen werden müssen, ergibt sich in längerfristiger Betrachtung ein Strukturproblem.
Die als Anlage 1 beigefügte Präsentation erhält auf den Folien 7 und 9 Grafiken, die dieses Problem anschaulich darstellen.
4. Braunschweiger Berechnungsmethodik
Die örtliche Berechnung eines Strukturellen Defizits hat aus den genannten Gründen den Charakter eines Orientierungswertes, der das geplante Jahresergebnis einzuordnen hilft. Damit diese Funktion erfüllt werden kann, ist eine gleichbleibende Berechnungsmethodik von entscheidender Bedeutung.
Im Folgenden wird die hier entwickelte Berechnungsmethodik für die Ermittlung des Strukturellen Defizits am Beispiel des Haushaltsplanentwurfs 2019 erläutert:
a) Abweichung zwischen Netto-Gewerbesteuereinplanung und siebenjährigem arithmetischen Mittelwert
Im ersten Schritt wird der arithmetische Mittelwert aus den vergangenen 7 Jahren (für das Jahr 2019: 167,5 Mio. €) ermittelt. Dieser wird mit der Brutto-Gewerbesteuereinplanung für das Jahr 2019 (176,0 Mio. €) verglichen. Daraus ergibt sich eine Brutto-Abweichung von -8,5 Mio. €, d. h. im Haushaltsplanentwurf 2019 waren 8,5 Mio. € mehr veranschlagt als aufgrund des siebenjährigen arithmetischen Mittelwertes zu erwarten wären.
Da sich eine veränderte Gewerbesteuer auch unmittelbar auf die Gewerbesteuerumlage und mittelbar auf den kommunalen Finanzausgleich auswirkt, wurden diese Veränderungen ebenfalls simuliert. Für die Veränderung bei der Gewerbesteuerumlage wurde ein Prozentsatz von 15,33 der Gewerbesteuerabweichung verwendet. Die Veränderungen beim Finanzausgleich wirken sich mit etwa 40% der Veränderung bei der Gewerbesteuer aus. Bei der Berechnung des Finanzausgleichs wurde eine vereinfachte Rechenmethodik angewandt und zur besseren Verständlichkeit der zeitliche Nachlauf von etwa einem Jahr außer Betracht gelassen, da der kommunale Finanzausgleich erst mit Verzögerung auf städtische Ertragsschwankungen reagiert. Aus der Summe dieser beiden Veränderungen sowie der Veränderung der Gewerbesteuer ergibt sich die Netto-Abweichung. Für den Haushaltsplanentwurf 2019 liegt diese bei ‑4,3 Mio. €.
Diese Abweichung wirkt gegenüber dem im Haushaltsplanentwurf 2019 ausgewiesenen Planergebnis von rd. -38,9 Mio. € mit Wirkung für das strukturelle Defizit defiziterhöhend, weil diesem Ergebnis eine höhere Gewerbesteuereinplanung 2019 zu Grunde liegt als der siebenjährige arithmetische Mittelwert.
b) Jahrespezifische erhebliche Sonderfaktoren
Positiver oder negativer Konjunkturausgleichsfaktor
Zur Berechnung dieser Faktoren wurden die jeweiligen Einplanungen für die Gemeindeanteile an Einkommen- (139,4 Mio. €) und Umsatzsteuer (31,4 Mio. €) sowie der Schlüsselzuweisungen des Landes aus dem Finanzausgleich (126,0 Mio. €) um die aktuell vorliegende Steigerungsrate des Bruttoinlandsproduktes des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung für das jeweilige Planjahr (zum Entwurf 2019: 1,7%) reduziert. Daraus ergibt sich für 2019 ein defiziterhöhender Konjunkturausgleichsfaktor von rd. ‑5,0 Mio. €.
Korrekturfaktor Kommunaler Finanzausgleich
Die Nivellierung jährlicher Schwankungen im Finanzausgleich wird näherungsweise ermittelt, indem als Basis der Wert des Jahres 2013 (rd. 80 Mio. €) für Braunschweig für die Schlüsselzuweisungen aus dem Finanzausgleich als "Normalwert" zugrunde gelegt wurde. Dieser Wert wurde pro Jahr um 5% gesteigert. Zwischen dem hieraus ermittelten nivellierten Normalwert (Entwurf 2019: 107,2 Mio. €) und den Einplanungen im jeweiligen Haushaltsplanentwurf (2019: 126,0 Mio. €) wird die Differenz als Sondereffekt errechnet. Dieser wirkt für 2019 defiziterhöhend, weil die eingeplante Schlüsselzuweisung über dem gesteigerten Normalwert liegt und damit das im Haushalt ausgewiesene Planergebnis entsprechend besser ist.
Solche Effekte beim Finanzausgleich resultieren zumeist zu großen Teilen aus der eigenen Gewerbesteuerkraft, oft sind aber anteilig auch andere Kommunen von ähnlichen Effekten betroffen. Daher werden von der berechneten Abweichung zwei Drittel als Sondereffekt übernommen.
Bildung und Abbau von Haushaltsresten
Im ausgewiesenen Planergebnis von ‑38,9 Mio. € ist für das Jahr 2019 ein Abbau von Haushaltsresten (Aufwandsanteil) aus Vorjahren um 3,9 Mio. € enthalten. Da diese jedoch de facto nicht das eigentliche Planjahr betreffen, erfolgt eine defizitverringernde Korrektur um diesen Betrag.
Erhebliche Gewinn- und Verlustveränderungen städtischer Gesellschaften
Für das Jahr 2019 liegt ein entsprechender Sonderfaktor nicht vor, da bei den Ergebnissen der städtischen Gesellschaften kein einmaliger Sondereffekt erheblicher Größenordnung vorliegt.
Flüchtlingskosten
Noch immer trägt die Stadt Braunschweig einen erheblichen Anteil der Kosten im Zusammenhang mit der Flüchtlingsthematik selbst, weil Bund und Land die anfallenden Kosten nicht in vollem Umfang erstatten. Ggf. kommt es hier in Zukunft jedoch noch zu einer vollständigen Erstattung der Kosten. Daher wird die eingeplante Netto-Belastung der Flüchtlingskosten (im Haushaltsplanentwurf 2019 rd. 7,3 Mio. €) zunächst defizitverringernd berücksichtigt.
c) Übersicht
Folgende Tabelle fasst die beschriebene Berechnungsmethodik zusammen:
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| Entwurf 2019 |
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Ausgewiesenes Planergebnis |
| - 38,9 |
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Abweichung zwischen Netto-Gewerbesteuereinplanung und dem siebenjährigen arithmetischen Mittelwert |
| - 4,3 |
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Jahresspezifische erhebliche Sonderfaktoren |
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Positiver oder negativer Konjunkturausgleichsfaktor |
| - 5,0 |
Korrekturfaktor Kommunaler Finanzausgleich |
| - 12,5 |
Bildung und Abbau von Haushaltsresten |
| + 3,9 |
erhebliche Gewinn- und Verlustveränderungen städtischer Gesellschaften |
| 0,0 |
Flüchtlingskosten (netto) |
| + 7,3 |
|
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Jahresspezifische erhebliche Sonderfaktoren (gesamt) |
| - 6,4 |
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Strukturelles Defizit |
| - 49,6 |
Ausgehend von dem im Haushaltsplanentwurf 2019 ausgewiesenen Planergebnis von -38,9 Mio € ergibt sich danach ein Strukturelles Defizit von 49,6 Mio. €.
5. Entwicklung des Strukturellen Defizits
Die als Anlage 1 beigefügte Präsentation enthält auf Folie 17 eine Übersicht über die nach dem oben beschriebenen Modell berechneten und jeweils veröffentlichten Strukturellen Defizite seit der erstmaligen Berechnung im Jahr 2016. Danach zeigt sich im Laufe der Jahre ein Anstieg des Strukturellen Defizits von 15,8 Mio. € (Entwurf II 2016) auf 49,6 Mio. € (Entwurf 2019). Dies ist im Wesentlichen auf die Entwicklung der ausgewiesenen Planergebnisse in den Haushaltsjahren zurückzuführen, deren Defizite bisher den größten Anteil an den Strukturellen Defiziten hatten.
6. Korrektur der Stellungnahme 16-02019-01 vom 06.06.2016
Mit einem an mich gerichteten Schreiben vom 27. März 2019 hat die SPD-Fraktion u. a. auf Abweichungen bei der Darstellung des arithmetischen Mittelwertes in der Stellungnahme 16-02019-01 der Verwaltung zum Antrag 16-02019 „Gewerbesteuerglättung“ der Fraktion der Piratenpartei hingewiesen.
Tatsächlich hat eine Überprüfung der damals verwendeten Excel-Datei ergeben, dass bei der Berechnung des arithmetischen Mittelwertes für diese Jahre versehentlich ein Formelfehler vorlag. Dies hat leider dazu geführt, dass die Gewerbesteuerwerte für die Jahre vor 2008 bei der Berechnung der arithmetischen Mittelwerte für die Jahre 2010 bis 2014 nicht berücksichtigt wurden. So umfasste beispielsweise der arithmetische Mittelwert für das Jahr 2010 nur die Jahre 2008 (Ist) und 2009 (Ansatz), der Mittelwert für das Jahr 2011 nur die Jahre 2008 bis 2009 (Ist) und 2010 (Ansatz), usw. Derselbe Formelfehler lag für die betroffenen Jahre bei der Berechnung des geometrischen Mittelwertes vor.
Die Anlagen 2 und 3 zur damaligen Stellungnahme sind in entsprechend korrigierter Fassung als Anlage 2 beigefügt. Veränderungen gegenüber der Ursprungsfassung sind rot hinterlegt. Auf die ab dem Haushaltsplanentwurf 2016 errechneten Strukturellen Defizite ergeben sich daraus keine Auswirkungen.
7. Fazit
Das Strukturelle Defizit ist ein von der Finanzverwaltung jährlich im Rahmen der Haushaltsplanung errechneter Wert, der die Haushaltssituation bei Einplanung einer aus der Vergangenheit durch Glättung ermittelten Gewerbesteuererwartung simuliert und Sondereffekte berücksichtigt. Die errechnete Zahl hat den Charakter eines Orientierungswertes und ist nicht dazu bestimmt, als exaktes, jahresgenaues Konsolidierungsziel im Rahmen des Prozesses der Haushaltsoptimierung zu fungieren.
Anlage/n:
Anlage 1 Präsentation „Strukturelles Defizit“ im Verwaltungsausschuss am 26.03.2019
Anlage 2 Korrigierte Anlagen 2 und 3 zur Stellungnahme 16-02019-01 vom 06.06.2016
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Anlagen: | ||||
Nr. | Name | |||
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1 | Anlage 1 - Strukturelles Defizit_VA 26.03.2019 (449 KB) | ||
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2 | Anlage 2 - Korrigierte Anlagen 2 und 3 zur Stellungnahme 16-02019-01 (151 KB) |